Ein Schulkamerad lädt die ganze Klasse in das elterliche Haus ein. Man würde so etwas besser als Anwesen bezeichnen. Sein Zimmer beeindruckt selbst Mitschüler, die morgens von einem livrierten Chauffeur in die Schule gefahren werden. Die Einrichtung ist teurer als mein Elternhaus. Kein Wunder, der Kamerad ist einziger Sohn des drittreichsten Mann des Landes.
Doch etwas stört uns. Er behandelt seine feine Oma herablassend. Einer nach dem anderen erfindet einen Grund, um schnell zu verschwinden. In dem folgenden achten Schuljahr ist der Kamerad selbst verschwunden. Der Direktor hatte den Vater eingeladen, um ihm zu eröffnen, dass der Filius es an seiner Schule nicht zum Abi schaffen wird. Der Vater war zunächst empört ob der Frechheit, in der siebten Klasse ein Versagen im Abi zu prophezeien. Aber der Direktor überzeugt ihn.
Der ehemalige Schulkamerad darf den Salemer Geist am Bodensee genießen zusammen mit Jungen aus ca. 45 Ländern im Schloss Salem. Als ich mit 33 Jahren einem Unternehmer seinen Namen erwähne, fällt dieser in eine halbe Ohnmacht. Er erzählt, bei diesem Herrn bräuchte es ein Vierteljahr, bis man einen kleinen Termin bekommt. Der Kamerad hatte ein riesiges Firmenkonglomerat geerbt.
Wie das Glück so will, zieht er eines Tages an meinen ehemaligen Wohnort, wo die reichsten aber auch vermutlich ärmsten Leute hausen. Die einen residieren, die anderen hausen buchstäblich paar hundert Meter weiter. Für den Kameraden wird es das letzte hoch-herrschaftliche Haus sein. Mit ca. 60 Jahren hat er fertig. Ihm ist eine Großtat gelungen … Er hat ein riesiges Vermögen durchgebracht und ist buchstäblich bankrott.
Mein Schulkamerad steht mit 11 Jahren in einem Friseurladen mit weniger als vier qm. Er ist der junge aus der Erzählung mit den Lehrerinnen. In den Laden passt der Friseurstuhl und ein weiterer keiner Hocker. Wenn zwei Kunden kommen, muss einer vor der Tür warten.
Der Kamerad ernährt mit seiner Hände Kunst zuerst die Eltern und seine drei Geschwister. Als die Geschwister erwachsen sind und die Eltern auf dem nahen Friedhof ruhen, sorgt er nur noch für seine Frau und die eigenen Kinder.
Unser Ort wächst und gedeiht. Nach und nach verschwinden praktisch alle Läden. Der Ort verwandelt sich in einen Touristenmagnet. In dem einst so ruhigen Ort wohnt jetzt der reichste Mann des Landes. Und der Schulkamerad von der linken Spalte.
Wohlstand für die meisten. Nur nicht für den Kameraden. Denn in seinen kleinen Laden verirrt sich kein Tourist. Zudem ist unser Ort jetzt Ausgehmeile, und man geht zu solchen Orten fein frisiert. Die Kundschaft stirbt langsam aus oder zieht in ruhigere Gegenden.
Als mein Kamerad mit 75 seinen Laden zum letzten Mal abschließt, hat er 64 Jahre Arbeit auf weniger als 4 qm hinter sich, mit der er insgesamt neun Menschen durchs Leben gebracht hat.