Kommilitone K ist ein unglaublicher Spaßvogel. Er sprüht voll Witz und Humor. kaum zu glauben, dass er nur ein Jahr zuvor eine tödliche Mission kaltblütig ausgeführt hat, deren Planung zwei Jahre gedauert hatte. Er war mit drei Kumpels über die Ostsee nach Gedser gepaddelt. Damit waren die vier etwa die ersten der etwa insgesamt 50 Personen, die Republikflucht über diesen Weg begangen. Die Sache war so spektakulär, dass Der Stern die Story für 3.000 DM gekauft hatte, mehr als ein Jahreseinkommen eines Studenten.
Von den vermutlich über 500 Menschen, die diese Fahrt nicht überlebt haben und in der Kälte der Ostsee still verschwunden sind, berichtet keine Illustrierte und auch keine Chronik. Man kann nur über Mauertote lesen.
Es ist Weihnachten, doch der Kommilitone sieht nicht allzu fröhlich aus. Ich frage einen der Mitstreiter, der auch in meinem Studentenheim wohnt, was mit dem los sei. Dieser setzt ein trauriges Gesicht auf und bittet mich um Diskretion. Unser Freund hat von einem Arzt, den er wegen einer Kleinigkeit aufgesucht hatte, die frohe Kunde bekommen, er werde Ostern nicht mehr erleben. Ich sollte nunmehr der zweite Sterbebegleiter werden, ohne dass unser Kommilitone es merkt. Denn er will sich nicht aufgeben. Wir beide sind gerade mal 25.
Im neuen Jahr tue ich so, als wäre der Kommilitone immer noch der Spaßvogel, allerdings einer mit einem Wehwehchen. Er macht mit, geht auf Parties, will beim Tanzen neue Mädchen kennenlernen und hebt sein Glas öfter auf ein gesundes langes Leben. Heimlich besucht er Ärzte, die an ihm rumoperieren. Danach ist er eine Woche unansprechbar. Leute beschweren sich über seine geistige Abwesenheit.
Dann besteht er darauf, dass wir den grausigsten Film von Ingmar Bergmann sehen Die Stunde des Wolfs. Nach der Message des Films ist "Die kritischste Stunde des Lebens sei die „Stunde des Wolfs“, in der die meisten Menschen geboren werden, aber auch sterben." Nach diesem Tag zu Ende des Februars bleibt sein Zimmer im Stundenheim leer.
Ostern kommen die Eltern und räumen seine Bude.
Mein Freund M besitzt eine ansteckende Fröhlichkeit seit der ersten Klasse in der Schule, die wir zusammen besucht haben. Seine Eltern sind sehr angesehene Nachbarn. Nach der Grundschule trennen sich unsere schulischen Wege. Schwimmen und Segeln tun wir aber öfter zusammen.
Jahre später erzählt er mir, dass er in Wien studieren wolle. Na, ja. Ganz auf meinem Wege nach Berlin liegt Wien nicht gerade. Aber in meinem Auto ist noch ein Platz frei. Es ist seine erste Auslandsreise. Wir zelebrieren die Fahrt durch viele Länder, die ihm so einige Wunder bieten.
In Wien feiern wir erst einmal ausgiebig. Er findet schnell Anschluss. Leider erweist sich der schönste Anschluss, die Kellnerin der Studentenkneipe Mickey, nicht als sehr nachhaltig. Sie ist eine wunderschöne Wienerin, und echt mit Schmäh! Mickey verabredet sich mit allen Männern, die ihr zu Füßen liegen, lässt sich aber nie sehen. Trotzdem, alle lieben Mickey.
Doch meinen Freund hält nichts in Wien. Nach dem Studium kehrt er zurück. Er wird Anführer einer Bande lustiger Vögel, die nachts an unserer Marina viele Flaschen köpfen. Eigentlich ist das dort verboten, weil die Marina Teil des Komplexes einer Moschee ist. Aber Gott drückt ein Auge zu, und die Polizei geht lohnenderen Missetaten nach.
Eines Abends kehrt er nach der Arbeit zurück. Er lädt die ganze Baggage zum Essen ein. Ist der denn verrückt geworden, denken viele. Nein, verrückt ist er nicht. Er verrät den Freunden, dass er kein Geld mehr brauche. Denn er kommt gerade vom einem Arzt, der ihm eröffnet hat, dass sein Leben nur noch wenige Wochen alt werden wird.
Zwei Monate später tragen ihn einige Hundert Bekannte und Freunde zu unserem Friedhof mit einer großartigen Aussicht zum Meer. Kaum einer will aber glauben, dass er wirklich tot ist.
Für mich lebt er durch die Art, in der er den Tod empfangen hat.