Meine Grundschullehrerin denkt sich eine Methode aus, wie Schüler Schüler unterrichten können. Die Klasse wird in sechs Gruppen a sechs Kinder aufgeteilt. Ein Kind aus jeder Gruppe spielt den Leiter. Die Lehrerin unterrichtet diese sechs und sie sollen den restlichen fünf die Weisheit vermitteln. Zudem ist jeder Gruppenleiter für ein Fach verantwortlich. Alle können diesen fragen. Mein Fach ist Mathe.
Was Eltern wie die sonstige Lehrerschaft davon halten, spottet jeder Beschreibung. Der noch mildeste Kommentar lautet: "Die Alte hat keine Lust, selber zu arbeiten. Dann soll sie gleich in Pension gehen."
Mit 33 bei einer Militärübung für Fernmeldeoffiziere treffe ich zwei aus der damaligen Klasse wieder. Wir alle drei hatten es zum Diplomingenieur gebracht, über die Hälfte der Klasse zum Akademiker oder Akademikerin. Dabei betrug die Wahrscheinlichkeit, dass einer von uns auf die Uni schafft, zu unserer Kindheit ca. 1%.
Doch bei mir war der Weg zum Diplom mit Dornen gesät, ausgerechnet in Mathe. Denn bei der Abschlussprüfung des Grundschule kommt eine Lehrerin als Beisitzerin und der Schuldirektor, der ein Mathematiker ist. Dieser stellt mir drei Fragen, die ich allesamt wohl falsch beantworte. Er schmeisst mich raus.
Vor der Tür des Prüfungsraums stehend höre ich Gebrüll darin. Meine sanfte Lehrerin wird sehr laut. Ich verzieh mich nach Hause. Das Schuljahr ist wohl futsch.
Doch eine Woche später bekomme ich meine Note: "Sehr gut". Wie dies passieren konnte, beschäftigt mich bis zum Uni-Abschluss. Ich habe Angst vor Mathe. Bis ich zufällig die besagte Beisitzerin bei Nachbarn treffe. Sie erzählt, die hätte einen Anteil daran, dass ich es bis zum Doktor gebracht hätte. Ob ich mich an die Prüfung erinnere? Und ob. Diese Dame hatte als Vertretung bei uns in der Klasse die Kinder in Mathe gefragt. Als diese manche falschen Antworten gaben, hatte sie gefragt, wo sie denn das her hatten.
Um dem Direktor zu demonstrieren, wie falsch die Methode meiner Lehrerin war, hat sie genau meine Prüfung abgewartet. Eine Abrechnung zu Lasten eines Schülers.
Und dafür wollte diese Dame noch gelobt werden.
Als wir 11 Jahre alt sind, passiert am Ort Schreckliches. Einem Friseur müssen die Ärzte das zweite Bein amputieren. Bereits beim ersten Mal hatten die Nachbarn mit ihm geschimpft, denn auch das war ein Raucherbein.
Wenn man Leute fragt, welche Gliedmaßen für den Erfolg als Friseur maßgeblich sind, wird jeder auf die Hände tippen. Doch ein Friseur ohne Beine ist trotz fähiger Hände nichts wert. So muss mein Schulkamerad mit 11 Jahren antreten, die Familie zu ernähren. Gut gesagt, er hat noch ein Jahr Schule vor sich, bevor er einen Abschluss macht. Erst danach darf er mit der Friseurlehre anfangen. Bis dahin wären aber Vater, Mutter und drei kleine Geschwister verhungert.
Seine Klassenlehrerin ist eine böse guckende Frau, vor der man richtig Angst hat. Woher das kommt, kann niemand erklären. Es ist eben so. Diese furchterregende Dame lässt sich was einfallen. Mein Schulkamerad steht fortan im Friseurladen und im Klassenbuch zugleich. Und niemand am Ort merkt es.
Auch unser Direktor nicht, der als Mathematiker bestimmt zwei und zwei zusammen zählen kann. Wie die beiden, Lehrerin und Direktor, es später geschafft haben, dass der Jüngling die Abschlussprüfung besteht, will niemand wissen.
Von nun an steht unser Schulkamerad tagaus tagein in dem winzigen Laden angeleitet von seinem beinlosen Vater. Die Vermieterin des Ladens ist übrigens die böse Lehrerin von der schwarzen Spalte links. Als sie stirbt, trägt sie ihrem Erben auf, dem Friseur nicht zu kündigen.
Drei ehrfurchterrregende Menschen …